Traditionell war man der Ansicht, dass das Hirn bereits in früher Kindheit fest „verdrahtet“ ist. Daher wurde keine signifikante Wiederherstellung von Funktionen im Fall einer Gehirnschädigung eines Erwachsenen erwartet. Aktuelle Ergebnisse zeigen aber, dass das Hirn über eine beachtliche Plastizität verfügt, die über die Lebensdauer eines Erwachsenen bewahrt wird. Daher wurden spezielle Therapien sowohl für motorische als auch für visuelle Beeinträchtigungen entwickelt, die zu einer bedeutsamen Rückgewinnung von Funktionen führten. Der Prozess, den das Gehirn zur Wiederherstellung verlorener Funktionen durchläuft, wird als Neuroplastizität bezeichnet. Eine Gehirnschädigung beinhaltet auch die Schädigung des neuronalen Netzwerks, das visuelle Eindrücke verarbeitet. Da jedoch einige Netzwerke im Gehirn mehrfach vorliegen, kann die systematische Lichtstimulation des geschädigten Bereichs an spezifischen Positionen die Aktivierung und Nutzung alternativer Wege ermöglichen, um visuelle Eindrücke zu verarbeiten. Das Hirn entwickelt eine Art Bypass-Mechanismus. Die wiederholte Stimulation hat sich nicht nur beim Sehvermögen, sondern auch bei der Wiederherstellung anderer Funktionen wie zum Beispiel der Bewegung der unteren Extremitäten nach einem Schlaganfall als effektiv erwiesen.
Die VRT wurde entwickelt, um die Verarbeitung visueller Informationen durch residuale neuronale Strukturen zu stärken, die trotz einer akuten Läsion des Nervensystems funktionsfähig geblieben sind (z.B. nach einem Trauma, einem Schlaganfall, einer Entzündung oder selektiver Chirurgie zur Entfernung eines Hirntumors). Durch die wiederholte Stimulation im Verlauf der Therapie werden beeinträchtigte Sehfunktionen trainiert und verbessert – und damit Sehvermögen im Bereich der Gesichtsfeldeinschränkung nutzbar gemacht und zurückgewonnen.
Während der Patient auf einen zentralen Fixationspunkt auf dem Computerbildschirm schaut, werden Lichtreize wiederholt in den Übergangszonen zwischen dem intakten und dem geschädigten Gesichtsfeld präsentiert. Diese Bereiche verfügen über das höchste Verbesserungspotenzial. Die Parameter für die Lichtstimuli (z.B. Größe und Helligkeit) werden bestimmt, um den spezifischen Bedürfnissen jedes Patienten zu entsprechen. Die Aufgabe des Patienten ist es, auf jede Stimulation durch Druck einer Antworttaste zu reagieren. Dadurch wird die visuelle Verarbeitung in den eingeschränkten Bereichen im Verlauf der Therapie immer wieder aktiviert um dann zur Wiedergewinnung der Sehfunktionen zu führen.
Das VRT-Therapieprogramm besteht aus mehreren Phasen einschließlich Diagnostik, Lichtstimulation und Auswertung der visuellen Leistungsfähigkeit. In der Diagnosephase steht die präzise Vermessung der Einschränkung und der Gesichtsfeldgrenzen im Mittelpunkt. Zur Diagnostik wird die NovaVision Software mit hochauflösender Perimetrie (High-Resolution Perimetry – HRP) eingesetzt, bei der kleine weiße Lichtpunkte kurz auf einem virtuellen Gitter (zentral ±20 x ±15 Grad) an zufälligen Positionen erscheinen. Jeder gesehene Punkt soll vom Patienten durch Druck einer Antworttaste bestätigt werden. Die Aufgabe wird 3 Mal durchgeführt und aus den Ergebnissen wird ein Mittelwert gebildet. Dann wird eine Karte der visuellen Empfindlichkeit erstellt, die auf der Häufigkeit der Erkennung an jeder Punkt-Position basiert. Zusätzlich wird die Reaktionszeit des Patienten aufgezeichnet.
Im Anschluss an die Diagnostikphase beginnt die Therapie mit ständig wiederholten Stimulationen in den Bereichen des Gesichtsfeldes, in denen residuales Sehvermögen festgestellt wurde und in denen daher eine Verbesserung am wahrscheinlichsten ist. Es ist erwiesen, dass intensive, häufig wiederholte Lichtstimulation die visuellen Funktionen in den Zielbereichen des Gesichtsfelds stärken und wiederherstellen kann.
Während die Patienten die Stimulationstherapie zuhause durchführen, werden Parameter der Durchführungsqualität und der visuellen Leistung überwacht: Ein zentraler Fixationspunkt ändert immer wieder plötzlich die Form oder Farbe, darauf soll jedes Mal umgehend durch Tastendruck reagiert werden. (Fehlende) regelmäßige Antwort auf die Änderung des Fixationspunktes (Fixationskontrolle) ist ein Maß für die Fixationsgüte, Drücken der Antworttaste ohne dass ein Lichtreiz gezeigt wurde wird als falsch positive Reaktion gewertet.
Als abschließende Stufe der VRT werden erneut Gesichtsfeldtests mithilfe der hochauflösenden Perimetrie (High-Resolution Perimetry – HRP) durchgeführt, wobei erneut die Erkennung sehr kleiner weißer Lichtpunkte an verschiedenen Positionen wiederholt gemessen wird. Die Antworten aus drei aufeinander folgenden Tests werden gemittelt, um wieder eine Karte der visuellen Empfindlichkeit zu erhalten. Die Gesichtsfeldmessungen vor und nach der VRT werden verglichen, um die erzielten Verbesserungen zu bewerten.