Wie funktioniert das räumliche Sehen?

By August 18, 2016Auge und Sehen

Die räumliche oder auch Tiefenwahrnehmung unserer Umwelt beruht auf unserer Fähigkeit zu „stereoskopischem Sehen“. Voraussetzung hierfür ist sind zwei funktionstüchtige Augen, die synchron stehen und sich synchron bewegen.

Machen Sie folgenden Versuch: stellen Sie ein gemustertes rundes Objekt, etwa einen bemalten Kaffeebecher, in Armeslänge vor sich auf den Tisch. Wählen Sie sich aus dem Muster auf diesem Objekt einen Punkt aus und führen einen spitzen Bleistift genau zu diesem Punkt. Kein Problem. Nun schließen Sie ein Auge und versuchen es erneut – Sie führen den Bleistift in Richtung des Punktes und merken, dass Sie keine Ahnung haben, wie weit dieser noch entfernt ist. Um den Punkt genau zu treffen, müssen Sie mehrfach nachkorrigieren.

Wenn ein Mensch gerade aus in die Ferne schaut, stehen die Augen parallel zueinander. Dabei überschneiden sich Bereiche, die sowohl mit dem linken, als auch mit dem rechten Auge gesehen werden. So sieht man mit dem linken Augen nicht nur alles, was an unserer linken Körperhälfte passiert, sondern auch die Körpermitte und etwas von der rechten Seite und umgekehrt.

Aufbau Gesichtsfeld

Quelle 2009: nach T. Gröne, http://www.tg8.eu/webseiten/lesegewohnheiten%20II.html

Man sieht also den größten Teil des Gesichtsfeldes binokular, das heißt mit zwei Augen. Da unsere Augen bis zu 6,5 cm auseinander liegen, stehen uns von der Umwelt, die wir visuell wahrnehmen, über das linke und das rechte Auge zwei unterschiedliche Bilder zur Verfügung. Das Gehirn „errechnet“ dann die räumliche Information aus dem Unterschied zwischen diesen beiden Netzhautbildern und kreiert ein gemeinsames Gesamtbild mit zusätzlicher Information, wie weit die Objekte voneinander entfernt sind bzw. wie groß der jeweilige Abstand zu uns selbst ist.

Die Existenz dieser beiden Einzelbilder kann man sich verdeutlichen, indem man einen fernen Punkt betrachtet (fokussiert) und dabei einen Finger nah vor das Gesicht hält. Der Finger wird vom rechten und vom linken Auge gleichzeitig gesehen, weil er aber nicht im Fokusbereich liegt, kann er nicht zu einem Gesamtbild verrechnet werden. Er erscheint doppelt. Schließt man nun abwechselnd das linke und dann das rechte Auge, so stellt man fest, dass der Finger zuerst nach links und dann nach rechts springt. Das liegt daran, dass man nun die beiden einzelnen, monokularen (= mit einem Auge gesehenen) Bilder sieht, die in diesem besonderen Fall binokular zu einem Doppelbild führen.

Die Fähigkeit, mit beiden Augen zu fokussieren, also die Augen durch Kontrolle der Augenmuskeln synchron auf ein bestimmtes Ziel zu richten und dieses zu fixieren, um dieses genauer untersuchen zu können, muss in den ersten Monaten nach der Geburt zunächst erlernt werden. Bei Babys kann daher in dieser Anfangszeit häufig ein Schielen beobachtet werden, welches im Lauf der Zeit immer seltener auftritt.

Wie bei allen visuellen Wahrnehmungsprozessen greift unser Gehirn auch bei der Tiefenwahrnehmung auf unsere langjährigen Erfahrungswerte zurück, um weniger „Rechenleistung“ erbringen zu müssen und Bildinformationen schneller – in Sekundenbruchteilen – auswerten zu können. Aufgrund dieser erfahrungsbasierten Auswertung erhalten wir auch mit nur einem Auge bereits sehr viele räumliche Informationen. Auch dass wir räumliche Tiefe auch auf zweidimensionalen Abbildungen, z.B. auf Bildschirmen, wahrnehmen können, beruht auf dieser erfahrungsbasierten Auswertung.

Folgendes Bild verdeutlicht gleich mehrere Erfahrungen:

antike Halle

© Pixabay

  • Wir haben gelernt, dass sich Objekte, die teilweise durch andere verdeckt werden, hinter diesen Objekten befinden. In diesem Bild werden die Säulen, die andere Säulen verdecken, als näher zum Betrachter wahrgenommen.
  • Die wahrgenommene Größe eines Objekts stellt ebenfalls einen Hinweisreiz dar, denn je größer ein Objekt erscheint, desto eher nimmt man an, dass es näher zum Betrachter liegt, als ein kleiner erscheinendes Objekt gleicher Art.
  • Das Phänomen der linearen Perspektive: die objektiv parallel zueinander stehenden Säulen scheinen am Ende der Halle zusammenzulaufen. Der Weg erscheint dem Betrachter mit zunehmender Entfernung schmaler.
  • Die Position des Schattens an einem Objekt oder im Schatten befindlich Objekte geben weitere Informationen über die Tiefe des Raumes.

Diese Bildeindrücke können auch mit nur einem Auge wahrgenommen werden. Sie geben uns nicht unbedingt „echte“ Informationen bezüglich der Entfernungen im Raum, sondern können eingesetzt werden, um auf einem zweidimensionalen Bild einen natürlichen Tiefeneindruck zu erzeugen.

All die oben genannten Erfahrungen können auch für optische Täuschungen genutzt werden und einen falschen Bildeindruck vermitteln. Lesen Sie hier unseren Blog über visuelle Halluzinationen und Illusionen.

 

Räumliches Sehen erfordert ein gemeinsames Bild zweier Augen

Wie gesagt, auch wenn man den Eindruck hat, aufgrund unserer Erfahrungswerte die Raumtiefe und die räumlichen Beziehungen von Objekten auch mit nur einem Auge gut erfassen zu können, erfordert „echtes“ dreidimensionales Sehen einen sich überlappenden Seheindruck von zwei Augen.

Dieser Seheindruck fehlt nicht nur Personen, die nur mit einem Auge sehen können, sondern oft auch Personen, die aufgrund einer Schädigung im Gehirn an einem ausgeprägten Gesichtsfeldausfall leiden. Sie können z.B. die visuelle Information der kompletten linken oder rechten Hälfte ihres Gesichtsfeldes auf beiden Augen nicht mehr verarbeiten, sind für diesen Bereich trotz gesunder Augen blind (= homonyme Hemianopsie). Es fehlt genau der Teil des Gesichtsfeldes, der für die Überlappung notwendig ist. Daher kann auch bei einer homonymen Hemianopsie das stereoskopische Sehvermögen und damit die Tiefen- und Raumwahrnehmung verloren gehen.

Literaturverzeichnis

http://www.psychologie.uni-heidelberg.de/ae/allg/lehre/wct/w/w6_raum/w640_binokulare_tk.htm

http://irtel.uni-mannheim.de/lehre/seminararbeiten/w96/Tiefe/binoc.html