Kortikale Blindheit und „Blindsehen“

Der Begriff „kortikale Blindheit“ oder auch „Rindenblindheit“ bezeichnet den teilweisen oder vollständigen Verlust von Sehvermögen aufgrund einer Schädigung im Gehirn. Die Augen können bei dieser Art der Seheinschränkung völlig intakt sein, die Sehinformation kann aber aufgrund der genannten Schädigung nicht mehr zu den Gehirnarealen weitergeleitet werden, in denen diese Information in für uns verwertbare Seheindrücke weiterverarbeitet wird, z.B. Hell-Dunkel-Kontraste, Farben, Objekte, Gesichter. Für diese nicht weitergeleitete Sehinformation bleiben wir daher „blind“.

Die Begriffe „kortikal“ oder „Rinde“ bezieht sich auf diese weiterverarbeitenden Areale des Gehirns, die Gehirnrinde bzw. der visuelle Kortex.

Kortikale Blindheit kann für unterschiedlich große Teile des Sehvermögens bestehen, je nachdem wie groß und wo die Gehirnschädigung stattgefunden hat. Häufig besteht eine kortikale Blindheit für eine Hälfte des Gesichtsfeldes, rechts oder links auf beiden Augen. Ebenso kann nur ein Quadrant, oder auch eine noch kleinere Region im Gesichtsfeld betroffen sein. Diese Formen von Gesichtsfeldausfällen, die sogenannte homonyme Hemianopsie (Halbseitenausfall), die homonyme Quadrantenanopsie oder das Skotom, werden in unserem Blog „Gesichtsfeldausfälle bei Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Verletzung“ ausführlich beschrieben. Diese Arten von Sehbeeinträchtigung können mit den Sehtherapien der NovaVision, NEC und VRT, behandelt werden.

Kortikale Blindheit kann aber auch das gesamte Sehvermögen betreffen, Voraussetzung hierfür ist eine Schädigung z.B. durch Schlaganfälle in beiden Hälften des Gehirns, meistens in der sogenannten Sehrinde im okzipitalen Cortex. Eine hiervon betroffene Person ist vollständig blind, weil sie keine Seheindrücke mehr bewusst verarbeiten, keine Objekte erkennen und beschreiben, keine Gesichter erkennen, keinen Text lesen, nach keinem Gegenstand greifen kann.

 

Blindsehen:

Umso erstaunlicher ist daher die Beobachtung, dass kortikal blinde Menschen unter bestimmten Bedingungen auf visuelle Reize im blinden Bereich reagieren können, zum Beispiel Hindernissen ausweichen oder nach Objekten greifen. Nach eigenen Aussagen haben sie das Hindernis oder Objekt nicht sehen können, verhalten sich aber wie eine sehende Person. Dieses Phänomen wurde von den Psychologen Elizabeth Warrington und Lawrence Weiskrantz zum ersten Mal wissenschaftlich mit ihrer Versuchsperson DB untersucht. Sie gestalteten beispielsweise Testreihen, in denen ihm in seinem blinden Bereich Kreise an verschiedenen Positionen präsentiert wurden, und baten ihn, auf den jeweiligen Kreis zu zeigen. DB bestand darauf, überhaupt nichts zu sehen, und wurde dann gebeten, einfach zu raten. Die große Überraschung: er zeigte fast immer auf die richtige Position. Auch die horizontale oder vertikale Ausrichtung einer Linie konnte Daniel zu 80 % richtig „raten“, obwohl er auch diesbezüglich darauf bestand, die Linien nicht sehen zu können. Weitere Testreihen wurden auf Basis der „forced-choice“ (= „erzwungene Entscheidung“)-Methode entwickelt. Immer wieder zeigte sich das Phänomen, dass DB und andere Studienpersonen mit kortikaler Blindheit Farben, Bewegungen, Positionen von Objekten meistens korrekt angeben und sogar den Emotionsgehalt von Gesichtsausdrücken richtig deuten, aber nach eigenen Angaben nichts hiervon tatsächlich sehen konnten. Lawrence Weiskrantz prägte hierfür den Begriff „blindsight“ („Blindsehen“).

Im Jahr 2008 führte das Tamietto- und Weiskrantz -Team mit einem „blindsehenden“ Patienten den härtesten Test durch . Der Patient war komplett blind und ging normalerweise mit einem weißen Stock. Aber das Team legte den Stock beiseite und füllte dann einen Korridor mit verschiedenen Gegenständen, über welche er möglicherweise stolpern könnte, danach sollte er zur anderen Seite des Korridors laufen. „Obwohl er sagte, dass er nichts sehen kann, hat er gleich beim ersten Versuch enorm schnell seinen Weg um alle Hindernisse herum gefunden.“, sagt Tamietto.

Interessanterweise sagte der Versuchsteilnehmer, dass er nicht nur nichts bewusst gesehen hat, sondern auch, dass er sich auch nicht darüber bewusst ist aktiv den Gegenständen ausgewichen zu sein. Er bestand darauf, geradeaus durch den Flur gegangen zu sein.

In diesem Video sieht man ab der 2. Minute, dass die blinde Versuchsperson die Bewegungen von Lichtreizen mit dem Arm nachahmen kann.

Die Untersuchungen führten zu der Erkenntnis, dass Sehinformationen anscheinend nicht nur im okzipital gelegenen visuellen Kortex weiterverarbeitet werden, sondern es einen weiteren Verarbeitungsweg gibt. Allerdings ist über diesen zusätzlichen Verarbeitungsweg offenbar kein bewusstes Sehen möglich, unterbewusst kann jedoch angemessen auf viele visuelle Reize reagiert werden.

1997 konnten Arash Sahraie und Lawrence Weiskrantz anhand von funktionellen MRT-Untersuchungen nachweisen, dass bei „Blindsight“-Aufgaben eine Aktivierung der sogenannten Colliculi superiores im Mittelhirn erfolgt. Während die meisten Ganglienzellen von der Netzhaut über die Sehbahn zum visuellen Kortex ziehen, gibt es einen kleineren Anteil, der zu diesem zusätzlichen (akzessorischen) optischen System im Mittelhirn zieht.

Die Erforschung des Phänomens „Blindsight“ hat durch diese und viele weitere nachfolgende wissenschaftliche Studien ganz neue Einblicke in die Funktionsweise und Plastizität des Sehsystems gegeben und eröffnet nach wie vor neue Perspektiven.

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